Interview mit einer Lehrenden: Barrierefrei Schreiben lehren

Christina Hollosi-Boiger, Hochschullehrende und Schreibtrainerin, berichtet im Interview von ihrer Lehrerfahrung mit sehbeeinträchtigen Studierenden im Bereich wissenschaftliches Schreiben. Welche Aha-Momente sie dabei erlebte und wie eine Lehrveranstaltung gestaltet werden kann, um auf die besonderen Bedürfnisse der Studierenden einzugehen, erfahren Sie im Gespräch.

Liebe Christina, du unterrichtest an vielen verschiedenen Hochschulen in ganz Österreich mit Schwerpunkt auf das wissenschaftliche Schreiben. Erzähle uns kurz etwas über deinen Hintergrund!

Ich begleite Schreibende dabei, Texte zu erstellen, und zwar von der ersten Idee bis zur Fertigstellung. Das tue ich an verschiedenen Hochschulen in Lehrveranstaltungen, Workshops, Trainings, Beratungen. So vielfältig wie dieser Aufgabenbereich ist, so vielfältig sind auch die Teilnehmenden.

Wie war es für dich, sehbeeinträchtige Studierende im wissenschaftlichen Schreiben zu unterrichten?

Ein Aha-Moment war, dass die Schreib- und Lesetechniken, die ich vermittle, stark mit visuellen Reizen operieren. Das war mir vorher nicht bewusst. Das macht diese Schreib- und Lesetechniken für Personen mit Sehbeeinträchtigung schwer nutzbar.

Viele Übungen aus der Schreibdidaktik sind visualisierend. Kannst du dazu mehr sagen?

Ich habe erkannt: In der Schreibdidaktik arbeiten wir auf allen Ebenen und Phasen des Schreibprozesses mit visualisierenden Techniken. Beginnend bei der Ideenfindung, wo Clustering und Mind-Mapping als Brain Writing Tools zur Sammlung von Informationen, von Notizen dienen sollen. Doch bei der Vermittlung von Schreib-, Text- und Lesekompetenz sind überall visuelle Marker vorhanden. Zum Beispiel basieren viele Lesetechniken, wie das Speed Reading, auf einer schnellen Bucheinschätzung und dies erfolgt über visuelle Reize und Orientierung im Text. Sich bei der Recherche die Informationen aus Bibliothekskatalogen vorlesen zu lassen und dies auditiv zu verarbeiten, ist dabei eine weitaus höhere kognitive Leistung. Ich nehme auch an, dass es sehbeeinträchtigten Studierenden schwerer fällt zu differenzieren, ob eine angezeigte Quelle ein Artikel aus einer Tageszeitung oder ein wissenschaftlicher Artikel ist.

Warst du darauf vorbereitet, Studierende mit Sehbeeinträchtigung gut zu begleiten?

Zu Beginn nicht. Da gab es viele Momente, wo ich tief durchatmen musste. Ich habe zwar zahlreiche hochschuldidaktische Fortbildungen¹besucht; Hochschulen bieten auch kurze Fortbildungen, Infoveranstaltungen, Handreichungen oder Workshops, in denen ich zum Beispiel lernte, PDFs barrierefrei zu gestalten. Wenn ich in diesem Zusammenhang aber an die Future Skills² und an den OECD Lernkompass³ denke, wird Inklusion dort weitreichender gedacht. Zum Beispiel in Bezug auf die Schlüsselkompetenz des Interagierens in heterogenen Gruppen fehlten mir anfangs schon Wissen und Kompetenz, um Inklusion auch in meiner Lehre zu ermöglichen.

Der Scheinwerfer wird zwar auf einzelne Aspekte der Barrierefreiheit gerichtet, aber im Grunde fehlt eine systematische Ausbildung im Bereich Hochschuldidaktik.

Ja, ich würde sagen, dass Sehbeeinträchtigungen in der Hochschuldidaktik allgemein sowie auch in der Schreibdidaktik im Speziellen zu wenig berücksichtigt werden.

Wie beurteilst du die praktische Perspektive als Lehrende – tragen nicht auch Hochschulen eine Verantwortung in der Richtung?

Hochschulen tragen mit Lehrenden eine gemeinsame Verantwortung und es gibt eine gesetzliche Grundlage: Für Fachhochschulen ist es das Fachhochschul-Studiengesetz Paragraph 13⁴ und für Universitäten das Universitätsgesetz Paragraph 59⁵. Darin geht es vor allem um Beurteilungen und Prüfungen; Hochschulen und Lehrende sollen Personen mit Behinderung eine geeignete Prüfungsmodalität ermöglichen. Konkret bedeutet das: Wenn eine Beeinträchtigung von der Hochschule als Behinderung anerkannt ist, hat man als Lehrende*r die Möglichkeit, die Prüfungsmodalität zu verändern, zum Beispiel mehr Zeit für Abgaben einzuräumen. Das muss aber zum Lehr-Lern-Setting passen: Wenn Studierende zum Beispiel während des Semesters einen Text schreiben, darauf Rückmeldung bekommen, diesen verbessern und überarbeiten und darauf wieder Rückmeldung bekommen, ist der Faktor Zeit kritisch. Denn mehr Zeit für sehbeeinträchtigte Studierende bedeutet, dass sich ein solch iterativer Rückmeldeprozess im Semester schwerer ausgeht. Solch eine Änderung ist auch mit den prüfungsrechtlichen Institutionen beziehungsweise der Organisation abzusprechen.

Die Planung von Lehrveranstaltungen spielt also eine wichtige Rolle. Worauf kann ich in der Unterrichtsvorbereitung achten, um sehbeeinträchtigte Personen zu inkludieren?

Man muss zunächst etwas über die sehbeeinträchtigte Person in Erfahrung bringen: Handelt es sich um Blindheit oder um eine Sehbeeinträchtigung wie Rot-Blind-Sehschwäche? Und daraus folgend: Wie werden Unterlagen, Texte gelesen (z.B. durch einen Screenreader vorgelesen)? Da Lernmaterialien lesbar sein sollten, ist der zweite große Punkt, ob die Lernplattform barrierefrei ist, sodass eine (gute) Navigation möglich ist. Ich trete in so einem Fall mit den Studierenden in Kontakt und kläre ab, wie die Beeinträchtigung genau gelagert ist, was tatsächlich benötigt wird, und überlege dann, wie ich darauf eingehen kann. Wünschenswert wäre, dass die Hochschule die Lehrenden darauf vorbereitet und gegebenenfalls diesen Kontakt im Vorfeld schon herstellt beziehungsweise dies zunächst mit den Studierenden klärt und die Informationen dazu weitergibt.

Wie können sehbeeinträchtigte Studierende während einer Lehrveranstaltung inkludiert werden?

Die Stimme ist ein Thema. Und zwar die Frage, wo ich mich als Lehrperson im Raum positioniere, damit ich gut gehört werde. Vorbereitend gehe ich die gesamte Lehrveranstaltungsplanung durch und überlege, wo ich mit visuellen Aspekten in den Lernaktivitäten, Unterlagen oder genutzten Medien arbeite. Ich habe mir mittlerweile schon viele Alternativen überlegt, sodass zum Beispiel die Live-Notizen nicht mehr am Flipchart oder am Whiteboard notiert werden, sondern gleich in einem Dokument online mitgeschrieben werden, wodurch barrierefreies Lesen erleichtert wird.

Demnach müssen sich Lehrende auch neue Formate und Übungen überlegen, was das eigene Lehrportfolio erweitert.

Solche Anlässe bewirken, dass ich etwas Neues entwickle, mich informiere, mit neuen Medien arbeite. Grundsätzlich stelle ich mir auch oft die Frage, ob überhaupt ein visuelles Element nötig ist oder ob meine Lehre auch anders funktioniert. Wenn zum Beispiel in einer Peer-Aktivität ein Plakat gestaltet werden soll, wäre auch eine Liste in einem Online-Dokument möglich; die Liste wäre mit einem Screenreader wiederum leichter erfassbar.

Worauf sollte man in der Nachbearbeitung achten?

Ich denke, hier gibt es zweierlei zu berücksichtigen:

Erstens das Rückmelden: Erfolgt ein Feedback mündlich oder schriftlich? Gesprochene Kommentare können als Audiodatei über Lernplattformen hochgeladen werden; dies entlastet visuell gestützte Kommunikation. Es gibt auch die Möglichkeit, Videoaufzeichnungen zu erstellen und quasi der Lehrperson beim Lesen und Denken über den Text zuzusehen und zuzuhören. Wenn die Rückmeldung schriftlich erfolgt, sollten diese gut lesbar, das heißt auch mit einem Screenreader kompatibel sein.

Zweitens bedeutet Nachbereitung von Lehre auch den Bezug zum Constructive Alignment, also: Was ist das Lernziel, was steht im Curriculum, was sollen die Studierenden am Ende können und wie prüfe ich das? Daraus folgt die Frage: Was ist die geeignetste Prüfungsform für die Lehrinhalte? Wie ist die Prüfungsleistung fair zu beurteilen? Diese Fairness hat sich für mich als zentraler Faktor herausgestellt.

Alle sollen die Inhalte erfassen, an Lernaktivitäten teilnehmen können und eine faire Chance haben, bei der Prüfung zu reüssieren.

Genau! Mir geht es darum, dass unterschiedlichste Personen an der Lehrveranstaltung teilhaben können und in der Lage sind, die Lernziele zu erreichen – und das betrifft meine Wertehaltung als Lehrende: Hier geht es für mich um Fairness, Chancengleichheit und Teilhabe aller.

Inwiefern betrifft die Barrierefreiheit deine Wertehaltung als Lehrende?

Wenn ich eine Situation als ungerecht, als unfair empfinde, berührt mich das und es entsteht ein innerer Handlungsdruck, etwas zu tun. Das führt bei mir in der Regel zu Kreativität: Ich überlege mir, wie kann ich eine LV planen, damit alle mitmachen und ihre Lernziele erreichen können? Das geht zum Teil über den Lehrauftrag hinaus; ist mir aber wichtig.

Doch dein Honorar für jede Lehrveranstaltung bleibt gleich, oder?

In der Regel wird Engagement für Inklusion nicht zusätzlich finanziell honoriert. Wenn ich aber die Chance habe, etwas für mich positiv zu besetzen, dann tue ich das: Schließlich nehme ich viele Erkenntnisse für mich selbst mit und entwickle mich als Lehrende weiter, was mir in der Interaktion mit den Studierenden hilft. Oft ergibt sich auch eine positive Gesprächskultur an den Hochschulen!

Hast du abschließend konkrete Tipps für Lehrende, die aktuell das erste Mal vor dieser Herausforderung stehen?

Ich habe sogar drei Tipps!
Erstens: Prüfen Sie, ob Ihre fachlichen Lehrinhalte von der Sehbeeinträchtigung betroffen sind. Beim wissenschaftlichen Schreiben war das der Fall.
Zweitens: Überlegen Sie, wie Sie unterrichten, also welche Medien, Interaktions- oder Sozialformen und welche Unterlagen Sie verwenden. Wie stark werden hierbei visuelle Aspekte eingesetzt?
Drittens: Tauschen Sie sich aus! Mit der betreffenden Person, um zu erfahren, was für sie wirklich wichtig ist; mit Kolleg*innen an der Hochschule, wie diese mit Sehbeeinträchtigung in der Lehre umgehen. Und: Eine Möglichkeit des Austausches bietet auch dieses Forum hier: Posten Sie Ihre Gedanken zum Thema oder teilen Sie eine Frage oder Erfahrung. Durch geteiltes Wissen wächst unser aller Erfahrungsschatz!

Danke, Christina, für das lehr- und aufschlussreiche Gespräch!

 

Sehbeeinträchtigte Studierende im wissenschaftlichen Schreiben zu begleiten, ist eine Herausforderung. Haben Sie selbst – als Studierende*r oder als Lehrende*r – damit Erfahrungen gemacht? Welche Strategien haben Sie entwickelt? Wie war Ihre oder die Erfahrung Ihrer Studierenden dabei?

Wir freuen uns auf eine anregend-angeregte Diskussion in den Kommentaren!

1. Anmerkung der Redaktion: Zertifizierungen erfolgten unter anderem in den Bereichen Wissensmanagement, Online-Training, Literacy Management, Qualitätsmanagement, Hochschuldidaktik, Schreibtraining usw. Siehe dazu https://schreibenmitchribs.at/ueber-chribs/ ↩︎
2. OECD (2024). Future of Education and Skills 2030. Verfügbar unter https://www.oecd.org/en/about/projects/future-of-education-and-skills-2030.html ↩︎
3. Bertelsmann Stiftung et al. (2024). OECD Lernkompass 2023. OECD-Projekt. Future of Education and Skills 2023. Rahmenkonzept des Lernens. Verfügbar unter https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/OECD_Lernkompass_2030.pdf ↩︎
4. FHStG – Fachhochschul-Studiengesetz (Stand der Gesetzgebung: 18.09.2024). § 13 Abs. 2. Verfügbar unter https://www.jusline.at/gesetz/fhstg/paragraf/13 ↩︎
5. UG – Universitätsgesetz (Fassung vom: 18.09.2024). § 59 Abs. 1 Z 12. Verfügbar unter https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20002128 ↩︎

 

 

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